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Schwerpunkt
»Sexuelle Gewalt wird letztlich normalisiert«

Interview mit Tabea Freitag, Psychologische Psychotherapeutin der Fachstelle Mediensucht »return« in Hannover

Wie kommen Kinder und Jugendliche das erste Mal in Kontakt mit Pornos?

Kinder kommen primär über ihr Smartphone in Kontakt mit Pornos, zufällig beim Surfen oder durch Links von Mitschüler*innen. 


Mit welchen Folgen von Pornos werden Sie in Ihrer Arbeit konfrontiert? 

Mit einem Suchtproblem, den daraus entstehenden Beziehungsstörungen und mit sexueller Gewalt. Ein 17-Jähriger schreibt uns: »Ich hab‘ meinen ersten Porno mit 9 gesehen. Mit 14 habe ich gemerkt, dass ich irgendwie nicht mehr ohne Porno kann und versuche momentan mehr oder weniger erfolgreich, nicht mehr zu konsumieren. Ich werde immer wieder rückfällig und merk einfach, dass ich da nicht alleine rauskomme. Was mich besonders gefasst hat, sind sehr gewalttätige Videos. Ich merke sehr, wie ich einfach keine Beziehung eingehen kann und auch nicht durch was anderes als Masturbieren kommen kann. Ich hab keine vernünftigen Beratungsstellen in meiner Nähe gefunden und hab deswegen euch angeschrieben.« Hunderte erwachsene süchtige Männer, die wir in unserer Fachstelle therapeutisch begleitet haben, haben fast alle als Jugendliche mit dem Konsum begonnen. Die meisten suchen Hilfe, wenn ihre Partnerschaft an der Sucht zu zerbrechen droht. 


Eltern rufen uns an, weil ihr Kind emotional abwesend und verstört wirkt und sie Filmclips auf seinem Smartphone gefunden haben, zum Teil auch Gewalt- oder Kinderpornografie. Viele Kinder sind von dem Gesehenen verwirrt und traumatisiert, werden die Bilder nicht mehr los. Aus Scham reden sie aber nicht von sich aus darüber. Sie erleben eine verwirrende Mischung aus Schock, Angst, Ekel und zugleich Neugier, Erregung, Kick und geraten nicht selten in den Sog, sich diesen emotional hochwirksamen Cocktail immer wieder zu holen. Sie merken, dass der Konsum ein schnell wirksames Mittel gegen Langeweile, Stress, Frust oder Einsamkeit ist. So kann eine heimliche Sucht entstehen.


Gibt es in Bezug auf den Konsum und die Folgen Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen?

Die Auswirkungen sind abhängig von der Regelmäßigkeit und Häufigkeit des Konsums, aber auch dem Einstiegsalter. Jungen konsumieren wesentlich häufiger als Mädchen: Mehr als 70 Prozent der 14- bis 17-jährigen Jungen mehrmals wöchentlich bis täglich (WDR Quarks & Co, Umfrage 2017). Häufiger Pornokonsum fördert eine sexualisierte Wahrnehmung. Jungen nehmen Mädchen verstärkt als Sexobjekt wahr, Mädchen dagegen sich selbst. Mädchen sagen uns, dass sie Pornos schauen, um sich auf das vorzubereiten, was Jungen von ihnen erwarten. Viele Mädchen stehen unter enormem Druck, im Intimbereich auszusehen wie Pornostars und pornotypische, oft genug gewalttätige Praktiken mitzumachen, auch wenn sie das als schmerzhaft, eklig oder entwürdigend erleben. Sie wollen nicht als prüde gelten oder die Beziehung riskieren. Sexuelle Gewalt wird so letztlich normalisiert.


Sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen haben zugenommen. Was sind Ihre Erfahrungen als Therapeutin? Gibt es Zusammenhänge mit Pornokonsum?

Als Psychotherapeutin bin ich seit circa 15 Jahren vermehrt mit sexuellem Missbrauch bei jungen Frauen durch minderjährige Täter – Bruder, Mitschüler, Nachbar … – konfrontiert, die nach Pornokonsum das Gesehene umgesetzt hatten. Kinder und Jugendliche können die stark erregenden, ihre eigenen Grenzen verletzenden Filme nicht einordnen. Und manche wollen das auch real, an anderen nachmachen, denn Pornos vermitteln ja ein vermeintliches Recht auf Sex, wie und wann immer ich will. Das fördert sexuelle Übergriffe, auch in jungen Paarbeziehungen. 


Jugendliche sind neugierig, wollen Neues ausprobieren und ihre eigene Sexualität erkunden. Gibt es auch Formen der Pornografie, die für Kinder und Jugendliche unproblematisch sind?

Nein! Abgesehen davon, dass das Zugänglichmachen von Pornografie an unter 18-Jährige einen Straftatbestand nach § 184 StGB darstellt, bedeutet der Konsum von Pornografie, dass Kinder und Jugendliche ihre eigene Entdeckungsreise von Sexualität gestohlen bekommen. 


»Der Konsum von Pornografie bedeutet, dass Kinder und Jugendliche ihre eigene Entdeckungsreise von Sexualität gestohlen bekommen.«


Was können Eltern tun, um ihre Kinder vor Pornografie im Netz zu schützen?

Sie sollten sehr bewusst entscheiden, ab wann und unter welchen Bedingungen sie ihren Kindern einen Internetzugang ermöglichen. Eine geeignete Filterschutzsoftware kann eine hilfreiche Maßnahme sein. Entscheidend ist, dass Eltern gesprächsbereit sind und ihren Kindern signalisieren, dass sie nicht aus allen Wolken fallen werden, wenn ihr Nachwuchs auf pornografische Inhalte im Netz stößt.


Wie sollen Eltern mit ihren Kindern über Pornografie sprechen?

In jedem Fall unaufgeregt, ohne schlechtes Gewissen zu erzeugen, wenn im Browserverlauf Hinweise auf einschlägige Seiten auftauchen. Es empfiehlt sich, das Thema aktiv ohne konkreten Verdacht mit offenen Fragen anzusprechen, zum Beispiel: »Was würdest du tun, wenn du mal zufällig auf solchen Seiten landen solltest – würdest du es mir erzählen – wenn Nein, warum nicht?«


Fragen, die die Darsteller*innen als einzigartige Menschen mit Würde und Gefühlen sichtbar machen, können helfen, das Wertesystem der Pornoindustrie gemeinsam zu erkunden. »Machen die das alle freiwillig? Ist ihnen egal, dass jeder zuschauen kann? Was ist vermutlich nicht nett an diesem Job? Was wäre, wenn deine Schwester sowas machen würde? …« Wichtig ist, dass Eltern sich zum Thema positionieren. Kinder und Jugendliche haben das Recht, die Position ihrer Eltern zum Thema zu hören, um sich daran abzuarbeiten und selbst eine eigene Haltung zu entwickeln. 


Was können Eltern tun, wenn ihre Kinder trotz aller Gespräche und Absprachen immer weiter intensiv Pornos schauen?

In einem solchen Fall besteht der Verdacht, dass ein (beginnendes) Suchtverhalten vorliegt. Eltern sollten dann professionelle Hilfe suchen. 


Weitere Informationen unter:

www.return-mediensucht.de