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»Es war ein Leichtes, sich tagelang in der Wohnung zu verkriechen.«

Eine junge Frau berichtet, wie das Klicken durchs Internet zur Sucht wurde

Die Patientin ist kaum wiederzuerkennen, so selbstbewusst wirkt sie heute. Selbst erhebliche Veränderungen an ihrem Arbeitsplatz schrecken sie nicht mehr. »Das passt nicht mehr zu mir«, sagt sie. »Ich muss mich vielleicht umsehen, was ich beruflich in der Zukunft machen will.« Eine solche Herausforderung hätte sie noch vor einigen Jahren niedergedrückt und verängstigt. Die Welt draußen war ihr lange Zeit zu viel und das Internet ihr großer Fluchtpunkt gewesen. Ständig Nachrichten lesen, Links folgen, dies lesen und jenes, zur Unterbrechung hier ein kurzes Spiel durchklicken und dort ein Video ansehen. Die Tage vergingen, ohne dass sie die Wohnung verließ. Die Sucht begann, als Jeanne Sonntag (Name geändert) für ihr Studium in eine andere Stadt zog. Ihr Wissensdurst war immer groß gewesen. Immer schon schlug sie mal eben etwas zwischen Butterbrot und Salami nach. Statt der Bücher war es dann bald ausschließlich das Internet, in dem sie recherchierte. Doch bei ihren Nachforschungen verlor sie immer mehr die Zeit und die Kontrolle. Schon bald bemerkte sie, dass sie jedes Maß verlor und ihr das Leben draußen immer unzugänglicher wurde. Tagelang war sie im Netz unterwegs, manchmal 16 Stunden am Tag ohne große Unterbrechungen. Sie erinnert sich, wie sie versuchte, die Kontrolle zurückzugewinnen. Wie sie den nächsten Klick auf die nächste Nachricht dadurch vermeiden wollte, dass sie aufstand und in die Küche ging. In der Küche aber drehte sie genau eine Runde und nahm dann wieder die Abzweigung zu ihrem Bildschirm. Sie bekam Rückenschmerzen, sie bekam eine Sehnenscheidenentzündung, aber sie klickte weiter auf den nächsten Link.


»Jede Nicht-Süchtige* versteht nicht,was daran so schwierig ist. Jede Nicht-Süchtige* weiß nicht, dass die Abhängige* solche Dinge nicht mehr in der Hand hat«, sagt Jeanne Sonntag. »Die Sucht hieß: Das alles konnte ich nicht mehr entscheiden.«


Schließlich entglitt ihr ihr Leben so sehr, dass sie 2007 bei einer Suchtberatung um Hilfe bat. Doch die Berater*innen hörten zwar zu, aber fühlten sich selbst nicht kundig genug. Internetsucht war damals noch keine bekannte Abhängigkeit und keine* in der Beratungsstelle kannte sich mit dem Thema aus. »Sie haben mich einfach wieder weggeschickt«, berichtet sie. Erst Jahre später und in einer anderen Stadt wagte sie noch einmal diesen Schritt. Diesmal fand sie eine Beratungsstelle, die bereits auf Internetsucht spezialisiert war. Sie wurde ihr Rettungsanker. Ein Jahr lang nahm sie dort an einer Gruppentherapie teil. An den ersten Abend erinnert sie sich noch genau. Sie war zu spät, obwohl sie wusste, dass dann die Türen bereits verschlossen waren. Zu-Spät-Sein führte zum Ausschluss. Doch der Berater kannte die Neigung vieler Süchtiger, vor entscheidenden Momenten die Kurve zu kratzen, um sich der Abhängigkeit nicht stellen zu müssen. Er schob sie entgegen der Regeln in den Gruppenraum. Das Gefühl, als sich alle Köpfe im Raum nach ihr umdrehten und sie anstarrten, kann Jeanne Sonntag noch heute gut vermitteln: »Für einen langen Moment sagte keiner was und ich wäre am liebsten weggelaufen. Außer mir waren nur Männer da.« Die meiste Zeit hörte sie den Geschichten der anderen zu. »Das hat sehr geholfen. Zu merken, dass es anderen auch so ging. Und zu merken, wie schlimm es um mich stand.« Die meisten waren nämlich erst zwei oder drei Jahre computersüchtig, sie aber schon viel länger. Insgesamt sollte die Sucht sechs Jahre ihres Lebens beherrschen. Mit der Gruppe machte sie erste Schritte aus der Abhängigkeit. Immer wieder ging es darum, das Versacken und Versumpfen vor dem Bildschirm zu unterbrechen. Dadurch, dass man aufsteht. Aufstehen, dieser erste Moment, was hatte er sie für eine Überwindung gekostet. Dann raus gehen, um den Block gehen, nicht wieder an den PC zurückkehren. Noch besser, aber auch noch schwieriger war Sport machen, in Bewegung kommen, sich wieder spüren. »Jede Nicht-Süchtige* versteht nicht, was daran so schwierig ist. Jede Nicht-Süchtige* weiß nicht, dass die Abhängige* solche Dinge nicht mehr in der Hand hat«, sagt Jeanne Sonntag. »Die Sucht hieß: Das alles konnte ich nicht mehr entscheiden.«


Das Suchtmittel nicht mehr als notwendig anzufassen, war der erste Schritt. Eine möglichst stabile Abstinenz zu schaffen. Danach ging es aber auch um die Gründe, warum die Sucht es bei ihr so leicht gehabt hatte. Ein entscheidender Grund, sich in die Welt des Internets zu flüchten, war ihre übergroße Scheu vor anderen gewesen. Immer war die Angst dabei, von anderen verurteilt zu werden. Sich mit anderen Menschen zu treffen, war für sie immer anstrengender geworden. Etwas, das sie überforderte und das sie schließlich möglichst vermied. Die Angst vor Verletzung war so groß geworden, dass sie die Hilfe einer Psychotherapeutin suchte. Ein Jahr lang war ihre Psychotherapeutin Valentina Albertini dann fast die einzige Person, die sie noch sah. »Jeanne Sonntag war schwer depressiv, als sie in Behandlung kam«, stellt die Psychotherapeutin fest. Alles, was sie tat, machte ihr keine Freude mehr. »Mir war alles egal geworden«, erinnert sich die Patientin. »Ich ging über die Straße und ein Auto kam – egal. Die Sonne schien – egal. Es regnete – egal. Jeder Schritt, jede Bewegung war schwer und unsäglich anstrengend.«


Anfangs traf sie ihre Psychotherapeutin dreimal die Woche. Damit sie sich wieder wahr- und angenommen fühlte. Damit sie raus kam aus ihrem Versteck und wieder ein Leben ohne Bildschirm aufnahm.


All die schweren Jahre der Sucht lang hing jedoch ein Foto von ihr an der Wand. Fünf, sechs Jahre muss sie darauf gewesen sein. Auf dem Foto ist sie fröhlich und quietschvergnügt. In den Gesprächen mit der Psychotherapeutin machte sie sich auf den Weg, dieses kleine Mädchen wiederzufinden. Sie besprach noch einmal ihre Familiengeschichte, erinnerte sich, in der Schule anders als die anderen gewesen zu sein, angepflaumt und ausgestoßen worden zu sein. Sie erinnert sich an ihren sehnsüchtigen Wunsch »dazuzugehören, ohne dafür verurteilt zu werden, wer und wie ich bin«.


Anfangs traf sie ihre Psychotherapeutin dreimal die Woche. Damit sie sich wieder wahr- und angenommen fühlte. Damit sie raus kam aus ihrem Versteck und wieder ein Leben ohne Bildschirm aufnahm. Jeanne Sonntag sollte sich erst einmal wieder sicherer fühlen. Ihre Traurigkeit spüren. Ihr großes Gefühl der Einsamkeit. Wieder zu sich kommen. »Die Seele wieder heimholen«, nannte es Valentina Albertini. Zur Gesundung gehörte auch eine Versöhnung mit sich selbst. Jeanne Sonntag hatte eine große Strenge mit sich selbst aus ihrer Familie mitgenommen. Eine Pflicht, mehr auszuhalten, als gut für sie war. Sich viel zu versagen. Verletzungen zu vergraben. Unnachsichtig mit sich selbst zu sein. In der Therapie ging es auch darum, nachsichtiger, verzeihender und wohlwollender mit sich selbst zu werden. Immer wieder aber ging es auch um den PC, ihr Suchtmittel. Den PC brauchte sie für ihren Beruf. Das Smartphone war fast unverzichtbar, weil es sich schon längst als eine Kommunikationszentrale für jeden Einzelnen etabliert hat. Eine »stabile Abstinenz« zu erreichen, ist deshalb bei einer Internetabhängigkeit gar nicht so einfach. Das Suchtmittel ließ sich nicht völlig aus ihrem Leben verbannen. »Ich beobachte mich immer mit Argusaugen«, sagt sie noch heute, gut zweieinhalb Jahre nach dem Ende der Therapie. Um Rückfälle zu vermeiden, muss sie ständig auf sich aufpassen. Konfrontationen sind immer noch stressige Momente, die sie aus dem Gleichgewicht bringen können. Aber sie weiß inzwischen auch, sich in solchen Momenten selbst zu helfen. »Und ich habe jetzt ein Leben drumherum, das mich stützt«, sagt Jeanne Sonntag.